Presse
DE vom 9.2.2023
Senioren wollen mehr Rücksicht
E-Bikes, Rennradler, Lieferdienste: Viele alte Menschen fühlen sich in der Innenstadt zunehmend unsicher
Von Thomas Wolff
DARMSTADT. Der turbulente Verkehr in der Darmstädter Innenstadt macht alten Bürgerinnen und Bürgern zunehmend zu schaffen. Dagegen wollen sie mehr unternehmen. Mit Aktionen auf dem Luisenplatz und in der angrenzenden Fußgängerzone möchte die Interessenvertretung für ältere Menschen, frisch gewähltes Gremium mit beratender Funktion, auf die Konflikte aufmerksam machen - und die Erfahrungen anderer Menschen sammeln: Am 15. Mai laden die Vertreterinnen und Vertreter zu einer Veranstaltung ins Justus-Liebig-Haus ein. Da soll alles auf den Tisch, was ältere und auch jüngere Menschen bewegt - nicht nur, aber auch beim Straßenverkehr. Seit dem letzten Lockdown, sagt Ursula Schwarz, sind nicht nur die meisten Besucher der Innenstadt wieder zurück. Auch der Verkehr in der City ist mehr geworden, und anders. Das sind zumindest die gefühlten Werte. Ähnlich empfindet ihr Kollege Gerhard Abendschein, neu bei den 19 Gewählten der Interessenvertretung, den Betrieb in der City. „Schwierig" sei die Gemenge-lage auf dem Luisenplatz. Das habe zum einen strukturelle Gründe. „Die Teilung des Platzes, die durch die öffentlichen Verkehrsmittel entsteht", sagt er, „ist für ältere Menschen schwer zu überbrücken." Das gelte freilich auch für andere Menschen wie Mütter mit kleinen Kindern. Wobei: Bus- und Bahnfahrer legen schon ein hohes Maß an Aufmerksamkeit an den Tag, wenn sie quer durch die Menschenmenge über den Platz rollen, sagt Abendschein. Zum anderen gebe es aber auch ein teils rücksichtsloses Verhalten gegenüber älteren Menschen, die zu Fuß unter-wegs sind. Abendschein und Schwarz nennen vor allem Zweiradfahrer. Letztere sagt zwar: „Wir wollen nicht eine einzige Gruppe in die Ecke stellen, sondern mit allen ins Gespräch kommen." Aber die riskanten Konflikte, die Beinahe-Unfälle und Schreckmomente, von denen die Älteren berichten, gehen klar von rücksichtslosen oder unaufmerksamen Radlern aus. Nun fragt sich die Vertretung: Wie soll man diese Gruppe ansprechen? Den Versuch hatten im vergangenen Spätsommer schon Fachleute der Verwaltung, der Politik und des Citymarketing unternommen. Sie entwarfen eine neue „Miteinanderzone" in der Darmstädter Innenstadt. Der Appell: Lieber schieben als Radeln, und wenn, dann bitte unter Beachtung der Verkehrs-ordnung und auch der Beschilderung. Denn in einigen Straßen der Innenstadt ist das Radeln auch im Fußgänger-bereich erlaubt, in anderen nicht. Die Initiatoren verteilten Flyer an Passanten, die Kräfte der aufgestockten Stadtpolizei wiesen Radelnde freundlich, aber bestimmt auf die geltende Ordnung hin. Dass sich seither viel geändert hat, nehmen die Älteren zumindest subjektiv nicht wahr. So überlegen sie nun, selbst aktiv zu werden. Bei der Informationsveranstaltung am 15. Mai im Liebig-Haus wollen sie Fragen, Anregungen sammeln. Was beobachten andere Besucher der Innenstadt? Welche Ideen haben sie dazu? Dann könnte eine Aktion vor Ort folgen, bei der Passanten gezielt von den älteren Menschen angesprochen werden - wie, das überlegen sie noch. Schwarz sagt: „Es geht vor allem darum, die Menschen zu sensibilisieren." Und sie für mehr gegenseitige Rücksichtnahme zu gewinnen. Denn das Tempo und die Wahrnehmung der Verkehrs-ströme in der Innenstadt sind je nach Alter und Verkehrsmittel verschieden, sagen die Vertreterinnen und Vertreter. Abendscheins Erfahrung: „Je langsamer man wird im Alter, desto schwieriger wird es auf der Straße durch das Tempo der Anderen." Auch bauliche Veränderungen, die zunächst positive Effekte für Radler und Fußgänger haben, könnten „Folgeprobleme" für die Älteren auslösen. Abendschein nennt das Bei-spiel Heidelberger Straße. Hier hat die Stadt die Radspuren beiderseits sicherer gemacht, teils durch Markierung eines eigenen Weges. Spuren, die sich die Fußgänger und Radler teilten, können nun allein von den Spaziergängern genutzt werden. Das habe sich aber noch nicht überall herumgesprochen: „Sie können nie sicher sein, ob nicht ein Radfahrer von hinten kommt, der weiter wie gewohnt auf dem Geh-weg fährt." Solche Veränderungen müssten „besser kommuniziert werden", sagt er. „Es ist alles lösbar, aber es fehlt bei manchem an der Sensibilität."
Darmstädter Echo vom16. November 2021
Von Thomas Wolff
Schieben, bitte!
Die Konflikte zwischen Fußgängern und Radlern nehmen zu, sagen ältere Bürger und fordern Fahrverbote
DARMSTADT. Eine Fußgängerzone nur für Fußgänger: Dafür will sich die Interessenvertretung für ältere Menschen in Darmstadt verstärkt einsetzen. Konflikte mit Rad- und Roller-Fahrern nehmen nach Beobachtung vieler Abgeordneter des Gremiums zu – besonders auf dem Luisenplatz. Die Vorsitzende Ursula Schwarz, 76, sagt: "Die Rücksichtslosigkeit nimmt zu", seit nach dem Ende des letzten Lockdowns wieder mehr Passanten durch die Einkaufsstraßen strömen. Was die Älteren fordern, das könne auch vielen anderen Bürgern nutzen, glaubt der Vorstand.
Mehr Berichte über Beinahe-Zusammenstöße, vor allem über Ängste beim Besuch in der Darmstädter City hören die Mitglieder des Gremiums als früher. Erstmals hat sich der Vorstand jetzt wieder nach der Corona-Pause getroffen; am 16. Dezember lädt er zur Vollversammlung ein. Die Beobachtung der alten Bürger: Durch Lastenräder und E-Scooter sind viele Fußgänger noch stärker verunsichert als zuvor. "Das betrifft auch Mütter mit Kinderwagen", sagt Schwarz, "ebenso behinderte Menschen". Sie sollen sich künftig sicherer fühlen - in der gesamten Fußgängerzone, sagen die Interessenvertreter. Das Thema „Verkehrssicherheit" haben sie deshalb zu einem ihrer vier Schwerpunkt-Themen gewählt.
Wie viele alte Menschen in die polizeilich gemeldeten Unfälle auf dem Luisenplatz und in den angrenzenden Einkaufsstraßen verwickelt sind, wird statistisch nicht erhoben. Der letzte erfasste Unfall mit Fußgänger- und Radfahrer-Beteiligung ist von 2019. Gerhard Barnickel, 70, sagt: "Es gibt auch viele individuelle Unfälle, die gar nicht gemeldet werden, bei denen die Fußgänger aber auch blaue Flecken und andere Verletzungen abbekommen."
Die Forderung des Alten-Gremiums: Man könnte das Radfahren in der Fußgängerzone ganz verbieten oder Schritttempo anordnen." Das müsste dann freilich von der Stadtpolizei stärker kontrolliert werden, "und zwar zu den richtigen Tageszeiten", sagt Barnickel. Die beim Ordnungsamt angesiedelte Stadtpolizei wird gerade aufgestockt, die 71 Stellen sollen bis zum Frühjahr besetzt sein. Doch deren Aufgaben sind vielfältig; unter anderem müssen die Ordnungskräfte die Einhaltung der Corona-Auflagen überprüfen.
Den Vorständlern wäre es denn auch arn liebsten; wenn auf dem Luisenplatz außer den Bussen und Bahnen gar nichts mehr fahren würde. In anderen deutschen Städten wie Göttingen oder Oldenburg habe man die Einkaufsstraßen nur für die Fußgänger freigegeben. Alle anderen müssten absteigen und schieben. Das täten in Darmstadt nur die wenigsten freiwillig. Bei einer Zählung habe ein Vorstandsmitglied in der Wilhelminenstraße in einer Stunde festgestellt: Ein Drittel bis die Hälfte der Radler steigen nicht ab. Müssen sie freilich bisher auch nicht, außer in besonders beschilderten Abschnitten der City.
Das wollen die Alten ändern. Am besten durch bauliche Veränderungen auf dem Luisenplatz. Da steht ihnen ein mächtiger Gegner gegenüber, wissen sie: der Denkmalschutz.
Der Platz hat schließlich eine historische Prägung. Auch das neue Pflaster steht unter besonderem Schutz. Das war bisher eines der Argumente gegen Markierungen, die den Verkehr regeln oder mehr Sicherheit für bestimmte Verkehrsteilnehmer geben könnten. Ebenso lassen sich höherliegende Bahnsteige nicht machen, so bleibe das Ein- und Aussteigen am zentralen ÖPNV-Knoten der Stadt "nicht altersgerecht und barrierefrei", sagt Barnickel. Für ihn gibt es hier einen ein Widerspruch zwischen Denkmalpflege und Alltagstauglichkeit. "Der Denkmalschutz soll doch auch für die Menschen da sein?"
Solche Fragen würden die aktiven Alten auch gern im Stadtparlament stellen. Dürfen sie aber nicht: Rederecht haben sie nur in den Fachausschüssen. Davon, sagen Schwarz und Barnickel, wolle man jetzt mehr Gebrauch machen. Auch die Parteien wollen die Vorständler direkt ansprechen und auf die Probleme und Lösungsansätze der Interessenvertretung aufmerksam machen. Die Polizei Südhessen wollen sie ansprechen. Beim Präventionsrat der Kommune reden sie ohnedies schon mit. Barnickel ahnt: "Allein können wir das nicht durchbringen." So suchen die älteren Darmstädter jetzt mehr Verbündete.
Es ist nicht das einzige Thema, das ihnen unter den Nägeln brennt. Weitere Fragen: Wie kann die Digitalisierung so gestaltet werden, dass sie auch den alten Menschen nützt? Wie können sie so lange wie möglich in ihren vertrauten Quartieren leben statt in ein Heim zu wechseln? Und was lässt sich gegen Gewalt in der Pflege tun?